Unbehandelt lebt sich’s besser

Unbehandelt lebt sich’s besser

Roman

„Unbehandelt lebt sich’s besser“ – Henrik Lode

»Alter hier, Alter da, überlegte ich, ständig dieses minderbemittelte Wort. Nicht, dass ich es nicht ebenfalls benutzt hatte, und ebenfalls am laufenden Band. Doch ab einem gewissen Alter, dachte ich, war man aus dem Alter-Alter einfach raus.«

Konne ist neunzehn und lebt mit seiner Mutter in einem baufälligen Bungalow am Ostrand Berlins. Die Mauer ist gefallen, das Abi ist geschafft – doch statt der ersehnten Freiheit steht Konne nun ein Jahr Zivildienst in einer Rehaklinik bevor.

Nörgelnde Omas, mahnende Oberärzte, und das ab sechs Uhr morgens – immerhin wohnt sein Kumpel Nobbi gleich um die Ecke, und der besitzt mit einer Spielkonsole und einer Bong alles, was der Mensch nach Feierabend braucht.


Leseprobe

~ Kreiswehrersatzamt ~

»Frankfurt an der Oder, Endstation«, schnarrte es aus den Lautsprechern.
Ich verließ mein Abteil, den Zug, das Bahnhofsge­bäude.
Endstation auch hier. Ehrfürchtig durchwanderte ich das Potpourri aus Beton, Wellblech und blinden Fenstern und dachte an Kriegsfilmkulissen.
Das Kreiswehrersatzamt in ostalgischem Grau.
»Sie wünschen?«, fragte mich die Frau am Empfang. Ihr Atem ging schwer, bei jedem Luftzug hoben sich zwei enorme Brüste und quollen gegen eine knapp sitzende Bluse. In der Dünung des Ausschnitts schaukelte eine Perle wie ein im Hafen angeleintes Ruderboot sacht auf und ab.
»Zur Durchsicht«, sagte ich und überreichte meinen Musterungsbescheid. »Und den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung hab ich auch dabei.«
Die Frau ergriff meine Papiere und wies auf den Warteraum. Ich betrachtete ihr Dekolleté und hoffte, dass sie bei der Durchsicht nicht anwesend sein würde.
Meine Befürchtungen waren unbegründet. Der Amtsarzt war ein Väterchen um die sechzig, seine Assistenzschwester sah so abgenutzt aus wie ihre Dienststelle.
»Fühlen Sie sich gesund? Irgendwelche Beschwerden?«
»Alles paletti«, sagte ich. »Ich werd den Kriegsdienst nämlich verweigern.«
Der Amtsarzt nickte und diktierte fürs Protokoll. Ich verstand kein Wort davon.
»Trinken Sie Alkohol?«
»Selten«, sagte ich, »am Wochenende.«
Wieder Diktat, wieder Fachchinesisch.
Mir fiel auf, dass meine Antwort missverständlich war. Trank ich nun selten, und wenn, dann am Wochen­ende, oder selten am Wochenende, also bevorzugt zwischendrin? Kleines Komma, große Wirkung, hätte unser Deutsch­lehrer Herr Sowielski wohl dazu gesagt. Doch egal, die Schule war aus, die Belehrungen waren vorbei, und die Antwort war gelogen, ob mit oder ohne Komma. Seit dem Abi gingen die seltenen Trinktage Hand in Hand.
»Nehmen sie Drogen?«, fragte der Doktor.
»Mal gekifft«, sagte ich, »vor Jahren. Experimente als Jugendlicher halt.«
Mein Kumpel Max hatte sich durch seine Drogengeständnisse ausmustern lassen. Behauptete er zumindest. Ausschlaggebend, hatte er mir erklärt, sei der Ökokram. »Tollkirsche, Stechappel, Fliegenpilze. Wat man«, wie er sagte, »theoretisch ooch uff Biwak inne Büsche finden kann. Weil, wenn da eener ankommt, mit Hang zu so wat, und denn soll der mit ne Wumme durch de Jegend latschen, dit is denen nüscht.«
Für eine solche Taktik allerdings fehlte mir der Mut. Meine Erfahrung indes hätte ausgereicht. Ich versuchte vergeblich, mich daran zu erinnern, wann ich zuletzt einen Tag lang nicht gekifft oder sonstwelches Zeug geballert hatte. Vier Wochen waren seit der mündlichen Abiturprüfung vergangen, eine nebulöse Episode.
Auf die Anweisung des Arztes hin entkleidete ich mich und stellte mich auf die Waage. Während die Assistenzschwester vor meiner Brust Gewichte verschob, erblickte ich mich in einem mannshohen Wandspiegel.
Mit meiner Verweigerung, entschied ich, war die Armee fraglos gut beraten. Meine Arme hingen herab, als sei ich ihrer überdrüssig. Die Schultern standen schief, der kahl rasierte Kopf schien zu klein für den Rest. Ganz im Gegensatz zu meinem Bauch, der sich im Schlaglicht der Deckenbeleuchtung zu erstaunlichem Ausmaß wölbte. Wie die Karikaturen, überlegte ich, die sie für fünf Mark am Ku’damm von den Touristen zeichnen.
»Schultertiefstand rechts«, attestierte nun auch der Doktor. »Und ein bisschen Übergewicht bei unserem netten jungen Mann«.
Nett und jung, dachte ich, mit Platte und Plauze? Aber vielleicht sah der nette junge Nachwuchs in Frankfurt halt so aus.
Der Doktor streifte einen Gummihandschuh über, zog meine Shorts herunter und ergriff meine Hoden. »Husten bitte! Noch mal husten!«
Ich hustete, endgültig erleichtert, dass die dralle Vorzimmerdame in ihrem Vorzimmer geblieben war.
Wieder Kauderwelsch zum Aufschreiben.
»Und jetzt bücken bitte! Und ganz locker.«
Nichts anderes war Thema, wenn es in meinem Freundeskreis um die Musterung ging. Die reißen dir den Arsch auf, die schieben dir Instrumente hinein, die schnippeln an deiner Rosette herum. Erstaunlicherweise stammten Storys solcher Art nur von Leuten, denen ihre Musterung noch bevorstand. Alle anderen behaupteten stets und stolz, sie hätten diesen Teil der Untersuchung verweigert.
»Kein Sorge«, sagte der Arzt, der mich zögern sah. »Ich schau nur.«
Also beugte ich mich, und er schaute, und damit hatte sich’s auch.
Die Schwester überreichte mir einen Becher für die Urinprobe. »Auf der Toilette gibt’s eine Durchreiche. Und nicht übertreiben, ja? Halb voll reicht.«
Ich schloss mich im Klo ein, übertrieb ohne Vorsatz und machte mich eilig auf den Heimweg.


„Unbehandelt lebt sich’s besser“
überarbeitete Neuausgabe
Henrik Lode, Berlin, März 2023
© Copyright 2016 by Henrik Lode
Umschlaggestaltung: Marek Lode

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